Elsa, die neue Memory Prinzessin
Das Leben mit einer Behinderung (GAG)
11. Juni 2019
Einblick in unsere Wohngruppe für pflegebedürftige Menschen mit Behinderung
Die Kraft der Gemeinschaft wirkt wie ein Schutzschild
Ein schelmisches Lächeln huscht über ihr Gesicht. Die Augen zwinkern und die Freude erfasst wellenartig den ganzen Körper. Elsa* strahlt, sie rutscht unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, klatscht in die Hände und sagt: «Das ist gut!» Sie hat wieder beim Memory Spiel gewonnen. Sie weiss ganz genau, dass die Betreuerin nicht geschummelt hat. Das ist alleine ihr Verdienst und sie kostet es aus, wie es sich anfühlt endlich einmal im Mittelpunkt zu stehen. Alle Augen sind auf sie gerichtet und sie bekommt Anerkennung.
Es ist ein wertvoller Moment und ein Gewinn für uns alle. Im Mittelpunkt zu stehen, das war früher definitiv nicht Elsas Sache.
Wenn man wie Elsa etwas fülliger ist, gross und mit einer sichtbaren Behinderung, dann drängt man sich nicht in die erste Reihe. Man versteckt sich und will einfach nur in Ruhe gelassen werden. Vielleicht spürte sie auch die Blicke. Sie hörte das Getuschel über ihr Aussehen hinter ihrem Rücken, vermutete die Ablehnung, das Mitleid und Bedauern, das ihr Anblick erweckte.
Eintritt ins Alters- und Pflegeheim
Mit 54 Jahren trat Elsa ins Pflegeheim ein, weil sie die professionelle Unterstützung und Pflege brauchte. Sie lebte während fünf Jahren sehr zurückgezogen ohne ein Wort zu sprechen. Sie gab zwar Laute von sich, aber keine verständlichen Wörter. Es gab kurze Begegnungen mit dem Personal, Lichtblicke des Tages durch die Mahlzeiten, denn Elsa liebt gutes Essen. Dann gab es noch das Kreuzworträtselheft und ihr Malbuch. Ab und zu bekam sie Besuch von der Familie. Sie hat sich mit ihrem Leben arrangiert. Unspektakulär, aber sicher und bequem.
Natürlich gab es Aktivitäten, Konzerte und Spieleabende wo sie teilnehmen konnte, aber sie fühlte sich in der Menschenmenge einfach nicht wohl. Kaum war sie unterwegs spürte sie die Blicke, die ganze Geräuschkulisse und ihr Körper fing an zu zucken, mit den Armen versuchte sie ihren Kopf abzuschirmen und die Laute die aus ihrem Mund kamen, hatten etwas sehr verletzliches an sich. Die Pflegerinnen hatten wiederholt versucht Elsa unter den Bewohnenden zu integrieren, aber ihr ganzes Wesen zeigte Angst und Ablehnung.
Einzug in die Wohngruppe - Einzug in ein neues Leben
Elsa zügelte dann im Januar dieses Jahres nach Egerkingen in die neue Wohngruppe für pflegebedürftige Menschen mit Behinderungen. Sie war eine von drei Bewohnenden die dort mit uns Betreuerinnen die Wohngruppe eröffneten. Die Wohngruppe zeichnet sich dadurch aus, dass die Betreuerinnen Erfahrung mit Menschen mit Behinderung und mehr Zeit zur Verfügung haben. Dadurch ist eine individuellere Betreuung für jeden einzelnen Bewohnenden möglich. Durch die kleine Wohngruppe ist die Geräuschkulisse automatisch reduziert. Wir waren überzeugt, dass dies alles einen positiven Einfluss auf die Bewohnenden haben könnte, aber was dann passierte übertraf bei weitem alle unsere Erwartungen und Hoffnungen…
Alfred* und Elsa
Alfred kommt vorbei und wirft einen kurzen Blick auf den Tisch und sagt «Elsa, du bist unschlagbar, einfach die Beste!» Er ist auch einer der mittlerweile sechs Bewohnenden in der Wohngruppe in Egerkingen. Auch er fand hier sein neues Zuhause und erneut die Lebensfreude, wie er uns immer wieder freudestrahlend erzählt.
Zu Beginn war er ein paar Monate als einziger Mann in der Wohngruppe der «Hahn im Korb» und hat so bereits für Tränen, Eifersuchtsszenen aber auch viel Spass und Freude gesorgt. Er war auch derjenige, der plötzlich aus Elsas Mund klare und lange Sätze zauberte. Als sie eines Tages alleine am Morgentisch sassen und er ihr Komplimente über ihre Bluse und Frisur machte und sie sogar «Prinzessin» nannte, war es um sie geschehen.
Sie fragte plötzlich ganz normal und verständlich wie es ihm wohl gehe und was er sonst so für Pläne hätte. Er war darüber so überrascht sie sprechen zu hören, dass er sich beinahe verschluckt hätte.
Aber was hat sich geändert vom Pflegeheim zur Wohngruppe? Warum lässt sie die Nähe jetzt zu?
Betreuungskonzept der GAG Was haben wir Menschen alle gemeinsam, egal ob mit Behinderung, mit Demenz oder betagt? Wir suchen alle instinktiv ein Stück Zuhause, Geborgenheit, den sicheren Hafen, den wir nur kurz verlassen um kleine oder grosse Abenteuer zu erleben. Jeder Mensch braucht Zuspruch und das Gefühl dazuzugehören. Er muss spüren, dass er willkommen ist und geliebt wird.
Menschen mit Behinderung sind sich ihrer Identität bewusst, fühlen sich aber von der «normalen Gesellschaft» nicht ausreichend integriert und akzeptiert. Menschen wie Elsa und Alfred wissen wohl, dass sie anders sind. Sie leiden darunter, weil sie den Spiegel der Gesellschaft brauchen um sich zu vergleichen und zu versichern, dass sie der Norm entsprechen. Sie verlieren Schritt für Schritt das Vertrauen, dass sie als Menschen wertvoll sind, dass sie durchaus viel richtig machen können, dass auch sie dazugehören.
Deshalb ist es unser Ziel in der Betreuung das Vertrauen aufzubauen, die Normalität und das Gefühl dazuzugehören zu schenken, Tag für Tag, denjenigen Menschen die nicht der Norm der Gesellschaft entsprechen.
Elsa's Weg
Elsa hat ihren Weg gefunden. Sie verkriecht sich immer noch ab und zu in ihr Schneckenhaus, so wie wir alle auch, wenn es uns zu viel wird. Aber meistens geniesst sie die Gemeinschaft ihrer Wohngruppe, um Memory oder Lotto zu spielen, gemeinsam zu essen, sich für die Fasnacht zu verkleiden und heute sogar um zu singen.
Die Blicke wird sie vermutlich immer noch spüren, vielleicht auch noch das Getuschel um ihr Aussehen, aber sie ist nicht mehr alleine. Sie braucht keine Mauer mehr um sich herum. Je nachdem sind sie zu zweit, zu dritt, zu viert, zu sechst. Sie sind eine Einheit geworden, sie die Bewohnenden und die Betreuenden der Wohngruppe, die Kraft der Gemeinschaft wirkt wie ein Schutzschild.
Innerhalb kürzester Zeit ist Elsa richtig aufgeblüht und überrascht uns täglich mit Worten und Gesten, die uns Gänsehaut Momente schenken. Elsa ist zwar immer noch schüchtern, das macht ihr Wesen aus, aber sie fühlt sich zugehörig und das sieht und hört man.
*Name von der Redaktion geändert
Haben Sie Erfahrung mit der Pflege von Menschen mit Behinderung? Was ist Ihre Meinung zum Thema «Wohngruppe für pflegebedürftige Menschen mit Behinderung?». Wir möchten uns hier gerne mit Pflegenden und Angehörigen austauschen und sind auch jederzeit für Fragen da.
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Die Kraft der Gemeinschaft wirkt wie ein Schutzschild
Ein schelmisches Lächeln huscht über ihr Gesicht. Die Augen zwinkern und die Freude erfasst wellenartig den ganzen Körper. Elsa* strahlt, sie rutscht unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, klatscht in die Hände und sagt: «Das ist gut!» Sie hat wieder beim Memory Spiel gewonnen. Sie weiss ganz genau, dass die Betreuerin nicht geschummelt hat. Das ist alleine ihr Verdienst und sie kostet es aus, wie es sich anfühlt endlich einmal im Mittelpunkt zu stehen. Alle Augen sind auf sie gerichtet und sie bekommt Anerkennung.
Es ist ein wertvoller Moment und ein Gewinn für uns alle. Im Mittelpunkt zu stehen, das war früher definitiv nicht Elsas Sache.
Wenn man wie Elsa etwas fülliger ist, gross und mit einer sichtbaren Behinderung, dann drängt man sich nicht in die erste Reihe. Man versteckt sich und will einfach nur in Ruhe gelassen werden. Vielleicht spürte sie auch die Blicke. Sie hörte das Getuschel über ihr Aussehen hinter ihrem Rücken, vermutete die Ablehnung, das Mitleid und Bedauern, das ihr Anblick erweckte.
Eintritt ins Alters- und Pflegeheim
Mit 54 Jahren trat Elsa ins Pflegeheim ein, weil sie die professionelle Unterstützung und Pflege brauchte. Sie lebte während fünf Jahren sehr zurückgezogen ohne ein Wort zu sprechen. Sie gab zwar Laute von sich, aber keine verständlichen Wörter. Es gab kurze Begegnungen mit dem Personal, Lichtblicke des Tages durch die Mahlzeiten, denn Elsa liebt gutes Essen. Dann gab es noch das Kreuzworträtselheft und ihr Malbuch. Ab und zu bekam sie Besuch von der Familie. Sie hat sich mit ihrem Leben arrangiert. Unspektakulär, aber sicher und bequem.
Natürlich gab es Aktivitäten, Konzerte und Spieleabende wo sie teilnehmen konnte, aber sie fühlte sich in der Menschenmenge einfach nicht wohl. Kaum war sie unterwegs spürte sie die Blicke, die ganze Geräuschkulisse und ihr Körper fing an zu zucken, mit den Armen versuchte sie ihren Kopf abzuschirmen und die Laute die aus ihrem Mund kamen, hatten etwas sehr verletzliches an sich. Die Pflegerinnen hatten wiederholt versucht Elsa unter den Bewohnenden zu integrieren, aber ihr ganzes Wesen zeigte Angst und Ablehnung.
Einzug in die Wohngruppe - Einzug in ein neues Leben
Elsa zügelte dann im Januar dieses Jahres nach Egerkingen in die neue Wohngruppe für pflegebedürftige Menschen mit Behinderungen. Sie war eine von drei Bewohnenden die dort mit uns Betreuerinnen die Wohngruppe eröffneten. Die Wohngruppe zeichnet sich dadurch aus, dass die Betreuerinnen Erfahrung mit Menschen mit Behinderung und mehr Zeit zur Verfügung haben. Dadurch ist eine individuellere Betreuung für jeden einzelnen Bewohnenden möglich. Durch die kleine Wohngruppe ist die Geräuschkulisse automatisch reduziert. Wir waren überzeugt, dass dies alles einen positiven Einfluss auf die Bewohnenden haben könnte, aber was dann passierte übertraf bei weitem alle unsere Erwartungen und Hoffnungen…
Alfred* und Elsa
Alfred kommt vorbei und wirft einen kurzen Blick auf den Tisch und sagt «Elsa, du bist unschlagbar, einfach die Beste!» Er ist auch einer der mittlerweile sechs Bewohnenden in der Wohngruppe in Egerkingen. Auch er fand hier sein neues Zuhause und erneut die Lebensfreude, wie er uns immer wieder freudestrahlend erzählt.
Zu Beginn war er ein paar Monate als einziger Mann in der Wohngruppe der «Hahn im Korb» und hat so bereits für Tränen, Eifersuchtsszenen aber auch viel Spass und Freude gesorgt. Er war auch derjenige, der plötzlich aus Elsas Mund klare und lange Sätze zauberte. Als sie eines Tages alleine am Morgentisch sassen und er ihr Komplimente über ihre Bluse und Frisur machte und sie sogar «Prinzessin» nannte, war es um sie geschehen.
Sie fragte plötzlich ganz normal und verständlich wie es ihm wohl gehe und was er sonst so für Pläne hätte. Er war darüber so überrascht sie sprechen zu hören, dass er sich beinahe verschluckt hätte.
Aber was hat sich geändert vom Pflegeheim zur Wohngruppe? Warum lässt sie die Nähe jetzt zu?
Betreuungskonzept der GAG Was haben wir Menschen alle gemeinsam, egal ob mit Behinderung, mit Demenz oder betagt? Wir suchen alle instinktiv ein Stück Zuhause, Geborgenheit, den sicheren Hafen, den wir nur kurz verlassen um kleine oder grosse Abenteuer zu erleben. Jeder Mensch braucht Zuspruch und das Gefühl dazuzugehören. Er muss spüren, dass er willkommen ist und geliebt wird.
Menschen mit Behinderung sind sich ihrer Identität bewusst, fühlen sich aber von der «normalen Gesellschaft» nicht ausreichend integriert und akzeptiert. Menschen wie Elsa und Alfred wissen wohl, dass sie anders sind. Sie leiden darunter, weil sie den Spiegel der Gesellschaft brauchen um sich zu vergleichen und zu versichern, dass sie der Norm entsprechen. Sie verlieren Schritt für Schritt das Vertrauen, dass sie als Menschen wertvoll sind, dass sie durchaus viel richtig machen können, dass auch sie dazugehören.
Deshalb ist es unser Ziel in der Betreuung das Vertrauen aufzubauen, die Normalität und das Gefühl dazuzugehören zu schenken, Tag für Tag, denjenigen Menschen die nicht der Norm der Gesellschaft entsprechen.
Elsa's Weg
Elsa hat ihren Weg gefunden. Sie verkriecht sich immer noch ab und zu in ihr Schneckenhaus, so wie wir alle auch, wenn es uns zu viel wird. Aber meistens geniesst sie die Gemeinschaft ihrer Wohngruppe, um Memory oder Lotto zu spielen, gemeinsam zu essen, sich für die Fasnacht zu verkleiden und heute sogar um zu singen.
Die Blicke wird sie vermutlich immer noch spüren, vielleicht auch noch das Getuschel um ihr Aussehen, aber sie ist nicht mehr alleine. Sie braucht keine Mauer mehr um sich herum. Je nachdem sind sie zu zweit, zu dritt, zu viert, zu sechst. Sie sind eine Einheit geworden, sie die Bewohnenden und die Betreuenden der Wohngruppe, die Kraft der Gemeinschaft wirkt wie ein Schutzschild.
Innerhalb kürzester Zeit ist Elsa richtig aufgeblüht und überrascht uns täglich mit Worten und Gesten, die uns Gänsehaut Momente schenken. Elsa ist zwar immer noch schüchtern, das macht ihr Wesen aus, aber sie fühlt sich zugehörig und das sieht und hört man.
*Name von der Redaktion geändert
Haben Sie Erfahrung mit der Pflege von Menschen mit Behinderung? Was ist Ihre Meinung zum Thema «Wohngruppe für pflegebedürftige Menschen mit Behinderung?». Wir möchten uns hier gerne mit Pflegenden und Angehörigen austauschen und sind auch jederzeit für Fragen da.