Die Befreiung von Frau S. - Freiheits- und Bewegungseinschränkende Massnahmen bei Menschen mit Demenz
Schritte in eine glücklichere Welt und ein lebenswertes Leben ohne Freiheits- und Bewegungseinschränkende Massnahmen (hier klicken)
Frau S. hat dichtes, wunderschönes, kurz geschnittenes weisses Haar. Sie sitzt meistens im Rollstuhl. Ruhig, den Blick starr nach vorne gerichtet. Sie reagiert kaum auf Geräusche, greift aber reflexartig nach Sachen die auf dem Tisch liegen, um sie in ihren Mund zu nehmen.
Mein Herz zieht sich zusammen, wenn ich sie im Gurt sehe.
Um ihre Hüfte herum befindet sich ein schmaler Gurt. Er ist diskret angelegt, schnürt nicht ein, aber er verhindert dass Frau S. ganz aufstehen kann.
Sie versucht hunderte Male am Tag aufzustehen, bis sie halb steht, dann spürt sie den Gurt und sinkt zurück in den Rollstuhl. Mein Herz zieht sich zusammen bei diesem Anblick. Ich weiss nicht mehr weiter. Frau S. kann nicht mehr alleine laufen, sie ist bereits mehrfach gestürzt, dabei hat sie sich verletzt.
Warum binden wir Menschen fest?
Abends wenn ich sie ins Bett bringe, muss ich ihr eine sogenannte «Zewidecke» anlegen, es sieht aus wie ein überdimensional grosser Babyschlafsack.
Ich frage mich weshalb? Sie ist sturzgefährdet, so wie abertausende von Senioren/ Seniorinnen auch. Binden wir sie deshalb alle fest? Es muss einen anderen Weg geben. Warum sehen wir diesen nicht? Die pflegerische Fürsorge beeinflusst unsere Entscheidungen.
Die Betreuerinnen und Betreuer sind besorgt und versuchen durch die Fixierung mögliche Stürze und Verletzungen zu vermeiden. Die Angehörigen wünschen sich das auch. Natürlich möchte man die Frau, die Mutter, das Grosi in Sicherheit wissen. Aber ist Frau S. damit glücklich? Sie kann es nicht mehr sagen, ihr Gesicht drückt Resignation aus, aber ihr Körper will in Bewegung bleiben. Die Frau die früher im Turnverein war, die Natur, die Musik und das Tanzen geliebt hat, sie ist in ihrem Körper gefangen und sie versteht nichts von einer möglichen Sturzgefahr. Sie will sich losreissen und noch mal die Welt umarmen!
Wir lernten früher, dass sauber und satt in der Pflege das Wichtigste sei. Mittlerweile wissen wir zum Glück, dass diese Wertesysteme veraltet sind und dass «glücklich sein» im Vordergrund steht.
Menschen die an Demenz erkranken können vieles nicht mehr, aber sie können Lachen und Weinen bis zum Schluss. Also, wie zaubern wir noch ein Lächeln auf ihre Gesichter?
Die Befreiung von Frau S. und von unseren Ängsten
Erstmal befreiten wir uns von unseren eigenen Ängsten und setzten Frau S. in einen normalen Stuhl und beobachteten sie.
Sie stand langsam auf, wollte sich wieder zurücksetzen, dann merkte sie, dass sie nichts mehr zurück hält. Sie stand erneut ganz vorsichtig auf, blieb eine Weile so und setzte sich wieder hin. Das Spiel ging mehrere Minuten so, dann traute sie sich ein paar Schritte zu machen, noch schwach, ihren Körper gebeugt, aber sie stürzte nicht.
Die erste Nacht in Freiheit war für uns ein Meilenstein
Am Abend liessen wir auch die «Zewidecke» weg und fuhren dass Bett nach unten, mit einer Matratze daneben. Am zweiten Tag war Frau S. auf die andere Matratze «gerobbt» und verbrachte so nach langer Zeit eine Nacht in «Freiheit». Der Anfang war gemacht.
Das Pflegeteam fing an mutig und kreativ zu werden. Während dem Mittagessen setzten wir Frau S. in eine «Kuschelecke» auf weiche Sitzsäcke, wo sie sich so bewegen konnte wie sie wollte. Nach und nach fielen die Bettgitter auch bei Frau V. und Herr A. weg, dann die Klingelmatte am Boden. (Die löst einen Alarm aus, wenn jemand selber aus dem Bett aufsteht.) Der Erfolg war berauschend. Wir spürten die Zufriedenheit, die strahlenden und lachenden Gesichter.
Natürlich stürtzt ab und zu jemand und es gibt auch Verletzungen. Das passiert überall, auf den Strassen oder Zuhause. Aber auf einen Sturz kommen mindestens Tausend kleine freie Schritte in eine glücklichere Welt und ein lebenswertes Leben.
Von Simona Caratus, Abteilungsleiterin Betreuung und Pflege Stapfenmatt
Haben Sie Erfahrung damit? Was ist Ihre Meinung zu Freiheits- und Bewegungseinschränkenden Massnahmen bei Menschen mit Demenz?
Wir möchten uns hier gerne mit Pflegenden und Angehörigen austauschen und sind auch jederzeit für Fragen da.
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Mein Herz zieht sich zusammen, wenn ich sie im Gurt sehe.
Um ihre Hüfte herum befindet sich ein schmaler Gurt. Er ist diskret angelegt, schnürt nicht ein, aber er verhindert dass Frau S. ganz aufstehen kann.
Sie versucht hunderte Male am Tag aufzustehen, bis sie halb steht, dann spürt sie den Gurt und sinkt zurück in den Rollstuhl. Mein Herz zieht sich zusammen bei diesem Anblick. Ich weiss nicht mehr weiter. Frau S. kann nicht mehr alleine laufen, sie ist bereits mehrfach gestürzt, dabei hat sie sich verletzt.
Warum binden wir Menschen fest?
Abends wenn ich sie ins Bett bringe, muss ich ihr eine sogenannte «Zewidecke» anlegen, es sieht aus wie ein überdimensional grosser Babyschlafsack.
Ich frage mich weshalb? Sie ist sturzgefährdet, so wie abertausende von Senioren/ Seniorinnen auch. Binden wir sie deshalb alle fest? Es muss einen anderen Weg geben. Warum sehen wir diesen nicht? Die pflegerische Fürsorge beeinflusst unsere Entscheidungen.
Die Betreuerinnen und Betreuer sind besorgt und versuchen durch die Fixierung mögliche Stürze und Verletzungen zu vermeiden. Die Angehörigen wünschen sich das auch. Natürlich möchte man die Frau, die Mutter, das Grosi in Sicherheit wissen. Aber ist Frau S. damit glücklich? Sie kann es nicht mehr sagen, ihr Gesicht drückt Resignation aus, aber ihr Körper will in Bewegung bleiben. Die Frau die früher im Turnverein war, die Natur, die Musik und das Tanzen geliebt hat, sie ist in ihrem Körper gefangen und sie versteht nichts von einer möglichen Sturzgefahr. Sie will sich losreissen und noch mal die Welt umarmen!
Wir lernten früher, dass sauber und satt in der Pflege das Wichtigste sei. Mittlerweile wissen wir zum Glück, dass diese Wertesysteme veraltet sind und dass «glücklich sein» im Vordergrund steht.
Menschen die an Demenz erkranken können vieles nicht mehr, aber sie können Lachen und Weinen bis zum Schluss. Also, wie zaubern wir noch ein Lächeln auf ihre Gesichter?
Die Befreiung von Frau S. und von unseren Ängsten
Erstmal befreiten wir uns von unseren eigenen Ängsten und setzten Frau S. in einen normalen Stuhl und beobachteten sie.
Sie stand langsam auf, wollte sich wieder zurücksetzen, dann merkte sie, dass sie nichts mehr zurück hält. Sie stand erneut ganz vorsichtig auf, blieb eine Weile so und setzte sich wieder hin. Das Spiel ging mehrere Minuten so, dann traute sie sich ein paar Schritte zu machen, noch schwach, ihren Körper gebeugt, aber sie stürzte nicht.
Die erste Nacht in Freiheit war für uns ein Meilenstein
Am Abend liessen wir auch die «Zewidecke» weg und fuhren dass Bett nach unten, mit einer Matratze daneben. Am zweiten Tag war Frau S. auf die andere Matratze «gerobbt» und verbrachte so nach langer Zeit eine Nacht in «Freiheit». Der Anfang war gemacht.
Das Pflegeteam fing an mutig und kreativ zu werden. Während dem Mittagessen setzten wir Frau S. in eine «Kuschelecke» auf weiche Sitzsäcke, wo sie sich so bewegen konnte wie sie wollte. Nach und nach fielen die Bettgitter auch bei Frau V. und Herr A. weg, dann die Klingelmatte am Boden. (Die löst einen Alarm aus, wenn jemand selber aus dem Bett aufsteht.) Der Erfolg war berauschend. Wir spürten die Zufriedenheit, die strahlenden und lachenden Gesichter.
Natürlich stürtzt ab und zu jemand und es gibt auch Verletzungen. Das passiert überall, auf den Strassen oder Zuhause. Aber auf einen Sturz kommen mindestens Tausend kleine freie Schritte in eine glücklichere Welt und ein lebenswertes Leben.
Von Simona Caratus, Abteilungsleiterin Betreuung und Pflege Stapfenmatt
Haben Sie Erfahrung damit? Was ist Ihre Meinung zu Freiheits- und Bewegungseinschränkenden Massnahmen bei Menschen mit Demenz?
Wir möchten uns hier gerne mit Pflegenden und Angehörigen austauschen und sind auch jederzeit für Fragen da.